Freitag, 13. Dezember 2013

HOMBRE versus homem: Mehr als nur ein phonetischer Unterschied

„H-O-M-B-R-E – das sagt doch schon alles“, meinte mein Mann, kaum, dass wir in Buenos Aires angekommen waren. „Das Wort allein klingt so sonor, kraftvoll und stolz. Ganz anders als das gequetschte homem, das nach Sopran klingt“, führte er seine sprachwissenschaftlichen Ausführungen zum Substantiv Mann fort.

Selbst als wir an der Rezeption unseres Hotels erfuhren, dass wir diese Nacht in einem anderen Hotel untergebracht würden, da vorgeblich ein Wasserschaden aufgetreten sei und dieser erst behoben werden müsse, hielt sich die Begeisterung meines Mannes. Wir würden jetzt mit dem Taxi in das Partnerhotel gebracht und morgen dort wieder abgeholt, erklärte die souveräne Rezeptionistin sogleich. 

Was für eine stolze, beeindruckende Frau, dachte ich bei mir, und erlag ebenfalls dem Vergleich. Die ersten Monate in Brasilien hatten wir im Hotel verbracht. Die dortigen Rezeptionistinnen und Rezeptionisten waren ausgesprochen bemüht und sehr nett, hatten aber nicht im Ansatz das Format, das uns an ihren argentinischen Berufskollegen begeisterte. Im Gegenteil: Sie und andere brasilianische Empfangsmitarbeiter, die wir im Verlauf der vergangenen drei Jahre im Rahmen unserer Reisen durch das Land erlebt hatten, kamen eher sanft daher. „Servil kann man das auch nennen“, erklärte mein Mann, als wir das Thema vertieften.

Nachdem wir eingecheckt hatten, ließen wir uns durch die Straßen von La Recoleta treiben. Wir waren überwältigt von der Schönheit und Eleganz, die sich uns präsentierte. Vor jedem zweiten Gebäude bleiben wir stehen und stellten uns vor, wie es wohl sein würde, dort zu leben. Kleine charmante Restaurants und mondäne Geschäfte bezauberten uns. Fasziniert blickten wir den Menschen nach, die ihrem Leben nachgingen, mit einer Mischung aus Nonchalance und Würde. 

„Findest Du nicht auch, dass alles hier an Europa erinnert“, brachte mein Mann schließlich auf, auf der Suche nach Erklärungen für unsere Faszination. Ja, auch für mich wurde Europa in den Straßen von Buenos Aires lebendig. Keine gestylten Barbies oder Miniaturwalküren in körperbetonten Kleidchen mit High Heels, auf denen sie das Gleichgewicht zu verlieren drohen, keine Männer im Business-Einheitslook bestehend aus hautengen Hemden und Polyesterhosen oder betont lässig in Shorts und Shirt mit dickem Chronographen am Handgelenk, sondern souveräne, stilsichere Frauen und Männer. 

Immer wieder betraten wir einzelne Gebäude und betrachteten die eleganten Eingangshallen. „Keine geschlossene Wohnhäuser oder -komplexe, keine Eingangsschleusen“, stellte ich fest. Nur ab und zu sitzt einmal ein Pförtner da, der eher an einen Concierge, nicht aber an einen brasilianischen Porteiro oder gar an einen Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts erinnert“. Obwohl diese Berufsgruppe nirgends zu sehen war, fühlten wir uns sicher in dieser Metropole, auch wenn ich gestehen muss, dass es eine Weile brauchte, bis ich mein São-Paulo-Radar herunterfuhr. 

„Komm, lass uns zum Hotel zurücklaufen“, schlug mein Mann, der nicht gerade für einen ausgeprägten Orientierungssinn bekannt ist, nach einem exzellenten Essen an diesem ersten Abend vor. Ich zögerte, denn es war bereits lange dunkel und ich war, obwohl ich, so die weit verbreitete Meinung, über ein eingebautes Navigationssystem verfüge, noch nicht wirklich mit der Geographie der Stadt vertraut. „Also gut“, stimmte ich zu, „doch ich übernehme keine Garantie was den Weg betrifft“, erklärte ich. So schlenderten wir durch die auch in der Dunkelheit prächtig anmutenden Straßen. Nach wenigen Metern schaltete sich mein São-Paulo-Radar automatisch ab und ich genoss den ersten wirklich entspannten Abendspaziergang auf dem südamerikanischen Kontinent. Mein Mann sinnierte derweil über das Servicepersonal des Abends. „Auch die Kellner haben hier ein ganz anderes Auftreten als in Brasilien. Dort kriechen sie unter dem Teppich, hier begegnet man sich auf Augenhöhe“, stellte er fest. 

Inzwischen waren wir an der Avenida 9 de Julio, der Hauptschlagader von Buenos Aires, angekommen. Dass wir die überqueren müssten, war klar, doch dann? Während wir an einer ruhigen Straßenecke den Stadtplan auffalteten, was mir in São Paulo nie in den Sinn kommen würde, trat der Nachtwächter eines Geschäftshauses auf den Bürgersteig und erklärte uns kurz und ohne Umschweife, wie wir am schnellsten zurück zum Hotel gelangen würden. Jedes Wort haben wir verstanden, obwohl wir keine Silbe Spanisch sprechen. Unser Portugiesischunterricht hat sich gelohnt und uns offensichtlich dazu befähigt, auch ähnliche Sprachen zumindest zu verstehen.

Was uns in Buenos Aires das europäische Gefühl bescherte, verstanden wir, während wir das Teatro Colón besichtigten. Praktisch alle verbauten Materialien stammten aus Europa. Marmor aus Italien, namentlich aus Verona und Carrara, aber auch aus Portugal sei zum Einsatz gekommen. Schwarzen Marmor habe man aus Belgien eingeschifft. Die Innenausstattung des prächtigsten Theater- und Opernhauses sei in Frankreich geordert worden. Das Haus, ja Buenos Aires, habe sich stets an Europa orientiert und sei dem Selbstverständnis nach die europäischste – im Subtext: kultivierteste – Metropole des Kontinents, sagte der Guide, der sich in diesem Moment als Opernsänger vorstellte, und, auf der Bühne angelangt, eine italienische Arie vortrug.

Freitag, 29. November 2013

Was seither geschah...

Vor sage und schreibe 280 Tagen habe ich meine letzte Kolumne veröffentlicht. Unglaublich, denn es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen.

Nachdem die Brasil-Post am 28. September 2012 nach 62 Jahre eingestellt wurde, war Zeit für Neues gekommen.

Und dies kam bereits zwölf Tage darauf, schneller als zu erwarten war, im Zuge der Teilnahme am III Prêmio de Fotografia 2012 des Club Transatlântico zum Thema “Verde na Metrópole”, „Grün in der Stadt“.

Auch wenn das Grün in der Betonwüste São Paulos nicht gerade auf dem Präsentierteller serviert wird, fand ich es – ausgerechnet in der Zona Leste, der Ostzone, einem sozialen Brennpunkt der Megacity bei der Hilfsorganisation CIDADES SEM FOME, STÄDTE OHNE HUNGER, - und schoss mein Wettbewerbsfoto.


Doch es blieb nicht bei dem Fototermin im Oktober 2012, denn die Arbeit von STÄDTE OHNE HUNGER begeisterte mich. Mit viel persönlichem Engagement hatte der Deutsch-Brasilianer Hans Dieter Temp unter vergleichsweise widrigen Rahmenbedingungen in der problembehafteten Peripherie der Stadt Projekte aufgebaut, die das Leben vieler Menschen dort grundlegend und spürbar verbessern.


Wenn diese wertvolle Arbeit nur bekannter wäre und einen größeren Unterstützerkreis hätte, könnte sich die Organisation national und international ganz anders aufstellen. Grundvoraussetzungen hierzu wären allerdings die vollständige Überarbeitung der Website und andere erforderliche Maßnahmen, ging es mir nach meinem Projektbesuch durch den Kopf. Es war, als hätte sich ein Schalter umgelegt. Sofort hatte ich die notwendigen Schritte vor Augen. Ein Telefonat besiegelte schließlich meine zukünftige Arbeit für STÄDTE OHNE HUNGER.

Nach eineinhalb Jahren als Kolumnistin hatte meine PR-Abstinenz so ein Ende. Ich war wieder in meinem originären beruflichen Schwerpunkt tätig, schrieb Konzepte zur Prozessoptimierung, verfasste Strategiepapiere und widmete mich der konzeptionellen und inhaltlichen Neugestaltung der Website und vielem mehr.

Wenige Tage bevor STÄDTE OHNE HUNGER wie aus dem Nichts in mein Leben getreten war, hatte sich im Rahmen eines Mittagessens bereits eine andere berufliche Tür geöffnet. Mein persönlicher Headhunter hier in Brasilien hatte, nachdem klar war, dass die Brasil-Post ihr Erscheinen einstellen würde, schon einen Folgeauftrag für mich. Die zweite Tätigkeit, die mir dieser großartige Networker, dem ich etwa vier Wochen nach meiner Ankunft in Brasilien im Jahr 2011 zufällig begegnet war, vermittelt hatte. Ich sollte eine Festschrift für eine deutsche Organisation in São Paulo verfassen, die im Herbst 2013 ihr 150-jähriges Bestehen feiern würde.


Mit einer guten Organisation und einer strukturierten Arbeitsweise würden beide Aufträge parallel zu bewältigen sein, zumal der Termin zur Fertigstellung der Publikation in weiter Ferne lag.

Im März 2013, nur sechs Tage nach meiner letzten veröffentlichten Kolumne, die inzwischen bereits nicht mehr wöchentlich, sondern 14-tägig erschien, wurde mir ein dritter Auftrag angetragen.
Ich hätte bereits eine neue Aufgabe übernommen und mit einer weiteren würde ich demnächst beginnen, erklärte ich hadernd, denn der in Aussicht gestellte Auftrag interessierte mich sehr. Es sei an mir, zu entscheiden, in welchem Umfang und mit welchem Arbeitsvolumen ich mich einbringen würde. Nach der positiven Zusammenarbeit im Vorjahr wolle man gern mit mir arbeiten. Außerdem sei die Dauer dieser ersten Projektphase, die Mitte Mai abgeschlossen sein würde, überschaubar. Ich konnte nicht widerstehen und nahm an, was gleichzeitig bedeutete, dass ich mich von meiner Kolumne verabschieden musste.

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in São Paulo profitierte ich von der Amanhã-Mentalität (Wortbedeutung: morgen; Alltagsgebrauch: in dernächste Woche, in einigen Monaten, im kommenden Jahr oder niemals) hier in Brasilien, denn das Buchprojekt kam nicht in Schwung. Ich konnte mich also voll und ganz auf meine Arbeit für STÄDTE OHNE HUNGER und den neuen Auftrag konzentrieren. Zumindest für einen ganzen Monat, denn Ende Mai materialisierte sich die nächste Aufgabe, die über STÄDTE OHNE HUNGER zustande kam, aber weit darüber hinaus ging.


Eine Gruppe deutscher Investmentbanker hatte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über STÄDTE OHNE HUNGER gelesen und sich für einen Projektbesuch angemeldet, den ich mit organisierte.

Je konkreter die Reiseplanung der Gruppe wurde, umso deutlicher realisierte der in München ansässige Chefplaner die organisatorischen Unwägbarkeiten und kulturellen Tücken São Paulos. Für diese Gruppe habe er bereits zahlreiche Reisen in die unterschiedlichsten Länder geplant und erfolgreich durchgeführt, São Paulo sei in organisatorischer Hinsicht allerdings ein Spezialfall. Ich wusste genau, wovon der Routinier sprach und bot ihm kurzerhand meine Unterstützung an, denn mein Kurzauftrag war fast abgeschlossen und das Buchprojekt hatte sich noch immer nicht konkretisiert. Ich habe es nicht bereut, denn diese Delegation zu betreuen, war ein ausgesprochenes Vergnügen.

Nach der Abreise der Investmentbanker schloss ich den Kurzauftrag ab und konzentrierte mich fortan wieder voll auf meine Arbeit für STÄDTE OHNE HUNGER.

Kurz vor meiner Deutschlandreise im Juni 2013 wurde der Auftrag zur Erstellung der Festschrift schriftlich bestätigt. Nun hieß es schreiben, schreiben, schreiben, denn gemäß meines Zeitplans – STÄDTE OHNE HUNGER sollte schließlich nicht ewig ohne mich auskommen müssen – waren zur Erstellung der Publikation exakt fünf Kalenderwochen eingeplant.

Dass ich in Brasilien lebe und arbeitete, realisierte ich einmal mehr nach meiner Rückkehr aus Deutschland, denn die von mir zur Erstellung der Publikation angesetzten Interviews waren natürlich nicht terminiert worden. Ich machte Druck, was in Brasilien nur bedingt funktioniert. Mir schwanten harte Zeiten.

Das letzte erforderliche Interview konnte ich schließlich am 18. Juli und nicht etwa, wie geplant, am 28. Juni führen.

Wäre die Planung in irgendeiner Weise relevant gewesen, hätte ich die fertige Publikation am 29. Juli abgeben müssen. Nicht so in Brasilien. Als termintreue Deutsche litt ich am vorgesehenen Abgabetag Höllenqualen, doch Gelassenheit war gefragt und harte zwölf bis 14-Stunden-Schichten. Am 15. August war es schließlich vollbracht. Ich schickte die Publikation an meine Auftraggeber und wandte mich wieder meiner Arbeit für STÄDTE OHNE HUNGER zu. 

„In den vergangenen zwölf Monaten haben wir viel geschafft“, sinnierte der STÄDTE OHNE HUNGER-Gründer gestern, als ich im Rahmen der Planung für 2014, eine lange To-do-Liste für das kommende Jahr präsentierte.

Recht hat er, dachte ich nach dem Gespräch bei mir, ohne auf das Naheliegende - einen Moment innezuhalten und mich am Ende dieses turbulenten Jahres meinem persönlichen Projekt zu widmen - zu kommen. Das kam mir erst wieder in den Sinn, als ich, in Arbeit vertieft, einen engen Freund per Skype abbügelte. Ich sei mittendrin in einer Arbeit für „mein Hilfswerk“. „Welches Hilfswerk?“, fragte er daraufhin. Völlig geschockt darüber, dass ich ihm diese wesentliche Information vorenthalten hatte, war das Naheliegende, die Weiterführung meiner Kolumne, beschlossene Sache.

P.S.: Ab sofort wird meine Kolumne - mit Ausnahme einer Weihnachtspause am 27.12.13 - wieder 14-tägig erscheinen, auf meiner eigenen Website, die ich zwischendurch erstellt habe.

Trotz des straffen Programms, das ich in 2013 absolviert habe, habe ich einiges erlebt, was ich meinen Lesern nicht vorenthalten möchte. Folgende Kolumnen werden in den kommenden Wochen veröffentlicht:

Hombre versus Homem: Mehr als nur ein phonetischer Unterschied

Wie ich einem Bayern-Profi in Araial d' Ajuda begegnete und was sich hinter “Prato Hippie Chic” verbirgt

Wie ich auf eine Legende traf...

Versandwege: Über verblüffend effiziente Dienstleistungen in Brasilien

Mein liebes Kindle

Freitag, 22. Februar 2013

Von Ausnahmepolizisten und einem Geländewagenfahrerinnen-Trauma

„Schau mal, gleich bricht die Frau da drüben theatralisch in Tränen aus. Garantiert findet sie irgendeine Erklärung dafür, warum sie keine andere Wahl hatte, als ihren Geländewagen ausgerechnet auf dem Behindertenparkplatz abzustellen“, kommentierte ich eine Szene, die ich vom Fenster eines Restaurants beobachtet hatte.
Als wir gerade darüber philosophierten, ob die Falschparkerin wohl mit ihrer für unseren Geschmack etwas zu offensichtlichen Show durchkommen würde, entfernte sich der Polizist vom Ort des Geschehens.
„Siehst Du, es hat funktioniert, ihre vermutlich äußert rührselige Geschichte über eine sterbende Oma – der Klassiker unter den Ausreden brasilianischer Arbeitnehmer zu Brückentagen – konnte das Herz des Polizisten erweichen“, setze mein Mann an, als der Polizist plötzlich erneut die Bühne betrat, bewaffnet mit einem Klemmbrett. „Sehr schön“, korrigierte sich mein Mann, „dieser Polizist nimmt seine Aufgabe offensichtlich ernst und lässt sich von diesem Theater nicht beeindrucken – Behindertenparkplätze sind nicht ohne Grund entsprechend gekennzeichnet“, erklärte er bestimmt.
Wenig später, als wir uns auf dem Weg in Richtung Büro bereits über andere tagesaktuelle Themen austauschten, ertönte auf der Fahrerseite plötzlich ein dumpfes Geräusch. Ein Geländewagen hatte uns an der Stelle, an der sich die Avenida Padre Antônio José dos Santos von drei auf zwei Fahrspuren verengt, von links kommend, gerammt. Noch während mein Mann ausstieg, bat er mich, Cristina, seine Assistentin, anzurufen. Sie möge doch bitte kommen, denn nicht noch einmal wollte er erleben, dass ihn ein Auto rammt und der Fahrer anschließend ungeschoren davon kommt.
So geschehen an einem Abend, an dem die Megacity im Regen versank, auf der Avenida Portugal, an einer Ampel vor einer Padaria. Während mein Mann darauf wartete, dass die Ampel auf Grün sprang, rauschte ein aus der Garage kommender Geländewagen in das Auto meines Mannes hinein. „Unfassbar, wie kann diese Frau in ein stehendes Auto fahren. Dann die Dreistigkeit, dass mir diese Martha, wenn sie denn so heißt, nur schnell einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand drückt und wegfährt“, echauffierte sich mein Mann an diesem Abend. „Du wirst sehen, niemals wird die Frau für den verursachten Schaden aufkommen“.
Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen: „Was denn für ein Unfall?“ Sie wüsste nicht, wovon die Rede sei, erklärte die Fahrerin, als Cristina am nächsten Morgen anrief, um die Schadensregulierung zu besprechen.
Als die gewünschte Verbindung zu Cristina aufgebaut war, die uns in der aktuellen Geländewagen-Causa dabei unterstützen sollte, ein erneutes „Martha-Trauma“ zu verhindern, übergab ich meinem Mann, der derweil den Schaden begutachtet und kurz mit der Fahrerin des Geländewagens gesprochen hatte, das Telefon. „Wir müssen sofort die Polizei verständigen“, erklärte mein Mann in diesem Moment. Diese Unfallgegnerin sei vermutlich eine zweite Martha, führte er aus.
Wie durch ein Wunder materialisierte sich nur wenige Meter hinter uns ein Streifenwagen, den ich erfolgreich heranwinkte. Doch es sollte noch besser kommen: Der vorbildliche Polizist, der kurze Zeit zuvor die Parksünderin, die auf dem Behindertenparkplatz gestanden hatte, zur Rechenschaft gezogen hatte, stieg aus.
Auf die Frage, was denn geschehen sei, erläuterte ich kurz den Vorfall. Ob wir unverletzt seien, wollte der Gesetzeshüter nun von uns und der Geländewagenfahrerin wissen, der er sich schließlich zuwandte. Sie könne nicht sagen, wie es genau dazu gekommen sein, wer welchen Anteil an dieser „Situation“ habe, erklärte sie vage und wiederholte, wie zuvor, als sie auf eine Klärung ohne Polizei gedrängt hatte, dass sie Kinder im Auto habe, die sie zur Schule fahren müsse.
Während die blonde Geländewagenfahrerin, der personifizierte Engel, nun per Mobiltelefon ihren Mann informierte und immer wieder beteuerte, dass ihr diese ganze „Sache“ völlig unerklärlich sei, setzte ich den Polizisten über die leidvolle Vorerfahrung meines Mannes ins Bild und betonte, dass er dies nicht noch einmal erleben möchte. „Where are you from“, erkundigte sich der engagierte Polizist in akzentfreiem Englisch und entschuldigte sich sogleich für seine unzureichenden Sprachkenntnisse.
Ich war beeindruckt, insbesondere nach all den Horrorgeschichten, die ich über brasilianische Polizisten gehört hatte. Dieser Beamte war nicht nur gewissenhaft. Er agierte hochprofessionell, war zurückhaltend, höflich und mehrsprachig – seine Bescheidenheit in allen Ehren.
Ob denn bei diesem ersten Unfall die Polizei involviert gewesen sei, wollte der Ausnahmepolizist wissen. Nein, dies sei sicher ein Fehler gewesen, räumte ich ein. Heute könnten wir ganz und gar unbesorgt sein, erklärte er. Er würde nun die Daten aufnehmen und uns anschließend zur nächsten Polizeidienststelle eskortieren, wo die Parteien ihre jeweilige Version des Unfallgeschehens zu Protokoll geben könnten.
Eine Aussage könne sie jetzt nicht machen, erklärte der blonde Engel sogleich, es sei inzwischen höchste Zeit, die Kinder endlich zur Schule zu bringen. Gern würde sie uns zur Klärung der Angelegenheit ihre Telefonnummer geben. Da hatte Martha II ihre Rechnung ohne den Ausnahmepolizisten gemacht, der nicht nur alle Personen- und fahrzeugrelevanten Daten aufnahm, sondern auch seinen Kollegen um eine Bestandsaufnahme des Schadens bat, während die Geländewagenfahrerin missmutig und voller Ungeduld die erbetenen Angaben machte. Sogar die eilig notierte Telefonnummer, die sie mir im Austausch für meine Visitenkarte gab, prüfte der gewissenhafte Gesetzeshüter auf ihre Richtigkeit.
Um Cristina entsprechend instruieren können, erkundigte ich mich schließlich, ob wir zur Delegacia in der Avenida Engenheiro Luís Carlos Berrini fahren würden. Nein, da niemand verletzt sei, reiche es, wenn wir unsere Aussage in einem Posto Policial, einem einfachen Revier, machten. Wir würden in die Rua República do Iraque fahren, schloss der Polizist.
Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, machten wir uns, dem Polizeiauto folgend, auf den Weg dorthin. Kaum waren wir einige Meter gefahren, hielt das Polizeiauto an, denn unser Ausnahmepolizist hatte ein Auto bemerkt, das gesetzeswidrig in zweiter Spur parkte und damit den Verkehr in dieser schmalen, stark befahrenen Straße beeinträchtigte. Der Ausnahmepolizist stieg aus und rügte den Fahrer, der sich sogleich einsichtig zeigt.
Wir fuhren weiter. Doch wann immer sich ein Verkehrsteilnehmer nicht völlig korrekt durch den dichten Verkehr bewegte, heulte die Sirene auf. So auch wenige Minuten später, als es einen weiteren Parksünder zu rügen galt. Anders als der Delinquent zuvor, zeigte dieser sich allerdings uneinsichtig und begann zu diskutieren. Dies hätte er lieber lassen sollen, denn unser Gesetzeshüter kehrte zum Auto zurück, griff einmal mehr nach dem Klemmbrett, entschuldigte sich bei uns für die Verzögerung und erfasste die Verkehrswidrigkeit des diskussionsfreudigen Autofahrers.
„Einfach großartig, wie dieser Polizist seinen Beruf ausübt“, lobte mein Mann den Gesetzeshüter. „Er hätte wirklich allen Grund dazu, einfach weiterzufahren, denn schließlich ist er ja mit uns beschäftigt“, legte ich nach, als plötzlich Cristina anrief, um zu erfragen, wo wir blieben, denn sie war längst am Polizeirevier angekommen. „Wir sind an einen wirklichen Ausnahmepolizisten geraten, der jeden Gesetzesverstoß, den er während der Fahrt zum Revier bemerkt, unmittelbar ahndet“, erklärte ich. Kein Problem, das Polizeirevier sei sehr idyllisch, mit Garten und Springbrunnen, berichtete Cristina. Dort zu warten, sei alles andere als unangenehm.
Schließlich am Polizeirevier angekommen, stellte ich Cristina unserem Ausnahmepolizisten vor, der sie seinerseits formvollendet grüßte. Nun setzte dieser den diensthabenden Polizisten auf dem Revier ins Bild – inhaltlich umfassend und gleichzeitig kurz und knapp – und verabschiedete sich von uns.
Auch die Aufnahme des Unfalls im Revier verlief äußerst professionell. Nachdem die persönlichen Daten erfasst waren, bat der Polizist meinen Mann um die Schilderung des Unfallhergangs, den er zu Protokoll nahm und uns schließlich vorlas. Nachdem Cristina zur Sicherheit alles kurz zusammengefasst hatte, bestätigten wir das Protokoll.
Wir hätten es ganz anders treffen können, denn gewiss gibt es hier in São Paulo in diesem harten Berufstand ganz andere Exemplare.
Nur eines blieb zurück: Mein Mann hat ein echtes Geländewagenfahrerinnen-Trauma davongetragen. Kaum nähert sich ein Fahrzeug dieser Kategorie, schwant meinem Mann das Schlimmste. Sitzt dann noch ein blonder Engel am Steuer, tritt mein Mann nach Möglichkeit das Gaspedal.

Freitag, 8. Februar 2013

Zwei Jahre São Paulo: Die unterschiedlichen Phasen eines neuen Lebens

Vor 727 Tagen oder auch 103 Wochen und sechs Tagen bin ich in São Paulo eingetroffen. Wie mein Mann, der 106 Tage zuvor in Deutschland gestartet war, ohne Look-and-See-Trip, ohne Kulturtraining und ohne nennenswerte Sprachkenntnisse.
Ich befand mich im wahrsten Sinne des Wortes im Honeymoon, denn wir hatten nur 26 Tage vor dem Abflug meines Mannes geheiratet. Dass ich mich auch rein wissenschaftlich gesehen in der Honeymoon-Phase befand, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Die erste Wissenschaftlerin, die sich 1951 mit dem Phänomen des Kulturschocks, der starken emotionalen Reaktion auf eine fremde Kultur, auseinandergesetzt hatte, war die aus New York stammende Anthropologin Cora DuBois.
Kalvero Oberg, ebenfalls US-Anthropologe, erweiterte diesen Begriff 1954 in einem Aufsatz, in dem er ein vier-Phasen-Modell einführte, das bis heute wissenschaftliche Anerkennung genießt. In diesem Modell (1. Honeymoon, 2. Krise, 3. Erholung und 4. Anpassung an die andere Kultur) vereinte Oberg erstmalig die Symptome des Kulturschocks mit dem Prozess der Adaption an die andere Kultur.
Zu Beginn der 1960er beschrieb der Wissenschaftler die vier Phasen, die während eines längerfristigen Auslandsaufenthaltes durchlaufen werden, schließlich detailliert.
In der ersten Phase, der sogenannten honeymoon phase, werde die neue Umgebung als aufregend, positiv und stimulierend empfunden. Das „neue Leben“ und der neue Job würden durchweg positiv wahrgenommen.
Irgendwann, so heißt es, begänne die zweite Phase, der culture shock, wenn die Person mit fremdkulturellem Hintergrund merke, dass doch nicht alles so sei, wie sie es erwartet hatte, und bekannte Orientierungsmuster nicht mehr funktionierten. Oberg erklärt hierzu, dass dies mit einem allgemeinen Unwohlsein, aber auch mit Orientierungslosigkeit oder gar mit dem Hass auf alles Fremde einhergehen könne.
Die dritte Phase, die sogenannte recovery phase, sei gekennzeichnet durch einen Aufschwung: Der Betroffene finge an zu akzeptieren, dass er ein Problem habe, mit dem er sich auseinandersetzen müsse. Er sei nun bereit, Kompromisse einzugehen und seine übertriebenen Erwartungen an die Realität anzupassen.
Die vierte und letzte Phase könne als adjustment phase, Anpassungs-Phase, beschrieben werden. In dieser lernten die Menschen, trotz eines fremden Umfeldes, effektiv zu arbeiten, mit Einschränkungen zurechtzukommen, Dinge anders als gewohnt zu behandeln und somit flexibler mit Ungewohntem umzugehen.
Gemäß der anfänglichen Euphorie in der honeymoon phase, dem tiefen Fall während des culture shocks und dem anschließenden Aufschwung in der recovery und adjustment phase ist Obergs ursprüngliches Modell, das über die Jahrzehnte von zahlreichen Wissenschaftlern und Expat-Experten weiterentwickelt worden ist, als U-Kurve bekannt.
Eine der aktuellen Bearbeitungen des Obergschen Phasenmodells ist besonders interessant, denn neben der Hinzufügung einer weiteren Phase, der Mastery, gibt Chalre Associates, ein Management Recruiter für Südostasien, Richtwerte zur Dauer der einzelnen Phasen. So dauere die Honeymoon-Phase vier bis sechs Wochen. Der vorprogrammierte Kulturschock ziehe sich sechs bis acht Monate hin. Nach ein bis zwei Jahren sei die graduelle Anpassung vollzogen. Über zwei und bis zu vier Jahren brauche man, um eine grundsätzliche Kompetenz zu erlangen. Nach fünf bis sieben Jahren sollte sich schließlich ein tiefes Verständnis, die Mastery, eingestellt haben.
Andere, insbesondere deutschsprachige Quellen sind deutlich zurückhaltender mit entsprechenden Prognosen. Im ungünstigsten Fall, so ein Schweizer Karriereportal, könne die Honeymoon-Phase gar ausbleiben. „Der Expatriate sehnt sich vielleicht bereits unmittelbar nach seiner Ankunft nach dem Essen seines Landes, nach seiner Familie, seinen Freunden, ja selbst nach Dingen, die er vorher in seinem Herkunftsland nicht besonders mochte.“
Um den Übergang von der Phase der Krise zur Phase der Erholung zu beschleunigen bzw. zu erleichtern, rät das Karriereportal, sich zügig und intensiv für den neuen Lebensstil und das neue Umfeld zu interessieren. Auch der Austausch mit Personen, die ähnliche Erfahrungen durchlebt hätten, könne dabei helfen, den „Abgrund“ von einer Phase zur nächsten zu überwinden.
Nach sechs bis zwölf Monaten entwickelten die entsandten Mitarbeiter eine neue Routine und wüssten, was sie erwarte. Sie begännen, ihre Fähigkeit zur Problemlösung zu perfektionieren, um sich an die neue Kultur anzupassen. Damit gehe insgesamt eine positivere Haltung einher. Die Kultur des Gastlandes begänne für sie Sinn zu machen, die negativen Reaktionen nähmen ab.
Die Phase der Anpassung sei dann erreicht, wenn man sich aktiv am Leben der örtlichen Kultur beteilige und die Kultur des Aufnahmelandes nicht mehr nach den Normen des Herkunftslandes beurteile, sondern vielmehr basierend auf unterschiedlichen kulturellen Referenzrahmen, die man verinnerlicht habe.
Heute, nach eben genau zwei Jahren, bin ich froh, dass ich das alles nicht gewusst habe, dass ich ganz unbedarft in mein neues Leben aufgebrochen bin. So werde ich nie im Leben den Moment vergessen, als der Container eintraf. Sieben Umzugshelfer trugen Kiste um Kiste und einen unförmig verpackten Einrichtungsgegenstand nach dem anderen in das leere Apartment, während meine Freundin Tereza und ich Listen abhakten und den Containerinhalt den unterschiedlichen Zimmern zuordneten, was nicht unproblematisch war, da das Gros der Einrichtung meinem Mann, der sich zu diesem Zeitpunkt beruflich in Deutschland befand, gehörte und mir im Detail unbekannt war. Sicher, ich hatte die einzelnen Stücke bereits gesehen, doch völlig auseinandergenommen war die Identifikation nicht ohne. Der helle Wahnsinn, doch wir nahmen es mit viel Humor und ich lernte weitere wohnungsrelevante Vokabeln.
Im tagelangen Umgang mit dem Elektriker hatte ich bereits erste Kenntnisse in diesem Bereich erworben, denn der hatte sich als außergewöhnlich talentierter Gedanken- und „Gestenleser“ mit pädagogischer Neigung erwiesen.
Ich genoss meinen doppelten Honeymoon, der lange währte, erkunde mit großer Neugier und Begeisterung die Stadt und organisierte unser Leben nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Von kleineren und größeren Katastrophen, die ich zügig für mich abhaken konnte, abgesehen, war mein neues Leben ein ganz großes Abenteuer.
Das war es auch für meinen Mann, der allerdings mit weit größeren Herausforderungen konfrontiert war, denn er hatte als erster Deutscher die Niederlassungsleitung eines deutschen Unternehmens übernommen, das mit einem großen, nahezu ausschließlich brasilianischem Team hochspezialisierte zeitkritische Dienstleistungen für deutsche Klienten in Brasilien erbringt. Jeder deutsche Leser, insbesondere derjenige, der in Brasilien lebt, wird sich vorstellen können, dass bei ihm der Kulturschock schneller einsetzte. Doch er verlor seinen Humor nicht und ließ sich in schweren Phasen immer wieder von meiner Begeisterung für unsere neue Heimat anstecken.
Eine erste Phase des Haderns setzte bei mir im vergangenen Frühsommer, nach knapp anderthalb Jahren, ein. Ich erlitt weniger einen Kulturschock, als vielmehr einen Sprachkenntnis-Schock, denn meine Portugiesischkenntnisse hatten sich schlechter als erhofft entwickelt. Im Alltag kam ich großartig zurecht, doch da nun einmal Sprache mein berufliches Handwerkszeug ist, setzte eine leichte Verzweiflung ein. Die legte sich erst, als ich für mich akzeptierte, dass sich ein Sprachniveau, das mich in absehbarer Zeit dazu qualifizieren würde, auf meinem ursprünglichen beruflichen Niveau zu arbeiten, nicht erreichen ließ. Ich müsste mir also Nischen suchen, die ich auch fand.
Ein kollektives Hadern mit unserem neuen Land stellte sich bei uns während unseres vorweihnachtlichen Deutschlandbesuchs im November 2012 ein. Hätten wir die Wahl gehabt, wären wir bei unseren Familien und Freunden in der Heimat geblieben, denn Bindungen dieser Qualität hatten wir nicht. Trotzdem sind wir tapfer zurückgekehrt.
„Ich habe das Gefühl, Brasilien gibt gerade alles, um Dein Herz wieder für sich zu gewinnen“, erklärte Tereza vor einigen Wochen. Auch mich hatte dieser Gedanke gestreift, denn in den vergangenen Wochen sind wirklich erstaunliche Dinge geschehen. Nicht zuletzt sind zwei meiner Lieblingsprodukte im brasilianischen Handel angekommen…
São Paulo ist eine großartige, dynamische Metropole, Brasilien eine beeindruckendes Land, das uns eine gute Heimat auf Zeit ist. Wie lange dies so sein wird, steht in den Sternen. Es bleibt aufregend.

Freitag, 25. Januar 2013

São Paulo repräsentativ und 16 ganz persönliche Meinungen zur Megacity

Im Kontext des 459. Geburtstags der Stadt São Paulo am 25. Januar führte das renommierte Meinungsforschungsinstitut IBOPE (Instituto Brasileiro de Opinião Pública e Estatística) eine repräsentative Untersuchung zur Lebensqualität in der Stadt durch, die ergeben hat, dass die überwiegende Mehrheit der Paulistanos mit dem Leben in der Stadt unzufrieden ist.
Auf einer Skala von 1 bis 10 wurden für die Lebensqualität 4.7 Punkte vergeben. Dies ist das schlechteste Ergebnis seit Beginn der Umfrage vor vier Jahren.
Die öffentliche Sicherheit hat sich als eine der größten Sorgen der Paulistanos herausgestellt. Laut der Umfrage glauben 91 Prozent der Befragten, dass es wenig oder gar nichts sicher ist, in der Stadt zu leben. Der Punkt, der von den meisten Befragten in diesem Zusammenhang genannt wurde, war „Gewalt im Allgemeinen“, gefolgt von „Raub/Diebstahl“.
56 Prozent der Befragten gaben sogar an, dass sie die Stadt verlassen würden, wenn sie könnten.
Von 169 Nennungen bekamen 82 Prozent negative Bewertungen. Auch die Hauptthemen der Stadt wurden negativ bewertet: Bildung erhielt einen Notendurchschnitt von 4,8 – im vergangenen Jahr lag dieser bei 5. Die Note für den Gesundheitsbereich fiel von 5,1 auf 4,8. Die Stadtverwaltung wurde von 35 Prozent als schlecht oder sehr schlecht eingestuft.
Die Umfrage zeigte auch ein geringes Maß an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Diejenigen, denen das höchste Maß an Misstrauen entgegengebracht wird, waren der Stadtrat (69%), der Rechungshof der Stadt (64%), die Polícia Civil (60%) und die Polícia Militar (60%).
Zur Untersuchung befragt, unterstrich der 49-jährige Fernando Haddad, der am 1. Januar 2013 als Bürgermeister vereidigt wurde, die Komplexität der zu lösenden Probleme und fügte scherzhaft hinzu, dass Bürgermeister von São Paulo zu sein, in die Liste der Extremsportarten aufgenommen werden sollte (“Deveria ter na lista de esportes radicais: prefeito de São Paulo”.)
Ein so vernichtendes Urteil hätte ich selbst in meiner akuten Heimwehphase im vergangenen Dezember über São Paulo nicht gefällt. Wie sehen die Menschen in meinem Umfeld die Megacity? Beurteilen die Deutschen, Schweizer, Paulistanos, Cariocas, mit denen ich unmittelbar in Verbindung stehe, die Stadt ebenso kritisch, wie die Teilnehmer der repräsentativen Umfrage?
16 ganz persönliche Meinungen zur Megacity
Sönke Böge (*1938) Unternehmerberater, Networker seit 1976 in SP
Stadtteil:
Jardim Marajoara, Geburtsort: Kiel, Stationen: Hamburg, Santiago de Chile (10 Jahre), Buenos Aires (3 Jahre), Lima (1 Jahr), Rio de Janeiro (2 Jahre), Zusatz: Die Kinder und Enkelkinder sind in São Paulo geboren.
„Für mich ist São Paulo weltweit die Stadt mit der stärksten Persönlichkeit. Sie polarisiert, denn man kann sie nur lieben oder hassen. Sie zerreißt einen und bietet gleichzeitig Orte der Ruhe und des Friedens. Sie ist unglaublich dynamisch, vielfältig, abwechslungsreich – ein Kaleidoskop. Hier hat man alles, wenn man die Bedingungen der Stadt akzeptiert.
Die verschiedenen Welt liegen dicht beieinander – die Sala São Paulo, die Stätte der Hochkultur, ist nur wenige Meter von Cracolândia, der Drogenhölle der Stadt, entfernt und doch liegen Galaxien dazwischen.“
Heloisa Bruck Pereira (*1958) Vereidigte Übersetzerin, Englisch für Erwachsene; Portugiesisch für Ausländer Paulistana
Stadtteil: 
Brooklin, Geburtsort: Marília (SãoPaulo), Stationen: London (2 Jahre)
„Die unkomplizierte Verfügbarkeit all dessen, was ich brauche, schätze ich sehr, ebenso die Servicequalität. Die Privatsphäre, die die Stadt ermöglicht – die Tatsache, dass sich niemand in das Privatleben einmischt – begrüße ich. Auch denke ich, dass die religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Vielfalt in São Paulo positiv hervorzuheben ist.
Negativ sind der Schmutz, die schlecht gepflegten öffentlichen Anlagen – die Bürgersteige, Plätze und Straßen. Weitere ernste Probleme sind die Gewalt, die Armut auf den Straßen der Stadt, die Bettler, die Straßenkinder und die vielen Drogenabhängigen.“
Ursula Altenbach (*1958) Künstlerin seit 1999 in SP
Stadtteil: 
Alto da Boa Vista, Geburtsort: Luzern, Stationen: Saudi-Arabien, Zürich, Rio de Janeiro, Stuttgart, Kopenhagen, São Paulo
„São Paulo ist eine Metropole mit vielen Gesichtern. Auf den ersten Blick erscheint sie als gnadenlose, alles verschlingende Macht. Doch ich habe mich hier von Anfang an sehr wohlgefühlt, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen internationalen Clubs, die Austausch und Hilfestellung bieten. Auch ich habe mich gerade in der letzten Zeit im INC (The International Newcomers Club of São Paulo) engagiert und habe bei den Newcomern, die ich persönlich betreut habe, ganz unterschiedliche Reaktionen auf die Stadt erlebt – von Irritation bis Faszination reichte das Spektrum.
Mich persönlich fasziniert die multikulturelle Stadt sehr. Kunst, Theater, Musik, Kulinarik befinden sich hier auf höchstem Niveau. In diesen Bereichen steht São Paulo New York in nichts nach.
Sicher, es gibt auch die ein oder andere Schattenseite – der Verkehr ist unbeschreiblich und auch der Zustand des öffentlichen Systems ist beklagenswert – auch wenn sich hier in den vergangenen Jahren bereits einiges getan hat. Meine Kinder, die inzwischen in der Schweiz leben, sind hier aufgewachsen. Für sie ist São Paulo ihre Heimat.“
Vera G. von Sothen (*1959) Heilpraktikerin (arbeitet vorwiegend mit Bachblüten und Jin Shin Jyutsu) seit 1982 in SP
Stadtteil:
Alto da Boa Vista, Geburtsort: Brüssel, Stationen: Brüssel (1959), Genua/Italien (1960-1963), Lima/Peru (1964-1967), Rio de Janeiro (1967), Bonn/Bad Godesberg (1967-1970), Asuncion/Paraguay (1970-1975), Rio, Hamburg (1978-1981), Rio (1981)
„São Paulo ist einerseits eine faszinierende Stadt: wegen der Vielfalt; wegen des Angebots, wegen des Adrenalins, wegen der Möglichkeiten, die sie bietet, wegen des internationalen Flairs. Andererseits ist São Paulo wie ein Vampir, der sich von unserer Energie ernährt.
Vorige Woche sind wir aus den Ferien zurückgekommen. Wir waren im Nordosten, in Maceio und Salvador und in Barretos im Landesinneren São Paulos. Mir fiel auf, wie viel schneller ich sein musste, um mich wieder dem Rhythmus dieser Stadt anzupassen. Sonst würde ich nicht mitkommen und überfahren, überrumpelt werden. São Paulo laugt einen aus!“
Hans Dieter Temp (*1964)
Betriebswirt, Techniker für Landwirtschaft und Umweltpolitik; Gründer der Organisation “Cidades sem Fome” („Städte ohne Hunger“) seit 1998 in SP
Stadtteil: 
Aricanduva, Geburtsort: São Borja (Rio Grande do Sul) – Deutsch-Brasilianer der dritten Generation, Stationen: Rio de Janeiro (10 Jahre), Tübingen (3 Jahre)
„In der Peripherie von São Paulo habe ich wunderbare Menschen mit viel Potential kennen gelernt. Zahlreiche dieser arbeitssamen Menschen sind vor Jahrzehnten der Dürre und dem Hunger im Nordosten des Landes entflohen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Megacity. Diese erste Generation der Neuankömmlinge hat sich angestrengt, damit das Elend durchbrochen wird, hat alles daran gesetzt, den eigenen Kindern ein Studium und damit bessere Jobs zu ermöglichen. Das finde ich großartig. Nun benötigt die Generation der Väter und Mütter eine kleine Hilfe, damit sie wieder laufen kann und auch im Alter in der neuen Heimat zurechtkommt. Hier setzen wir mit unserer Arbeit an.
São Paulo hat viel zu bieten. Jeden Tag treffen hier Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammen. Die verschiedenen Einflüsse sind eine Bereicherung für die Stadt. Mein Wunsch ist es, ein Sozialprojekt anzustoßen, das so viele Kulturen wie möglich einbindet.“
Marcelo Greco (*1966) Fotograf Paulistano
Wohnort in SP: 
Granja Vianna in Carapicuiba (São Paulo), Geburtsort: São Paulo,Stationen: Rom (1 Jahr) und zahlreiche Reisen innerhalb Europas und den USA
„Für mich ist São Paulo eine ausgesprochen spannende Stadt. Sie ist hässlich und gleichzeitig interessant – mit ihrem ganz eigenen Charme. Manchmal ist sie grausam und dann wieder sehr großzügig mit Menschen aus allen Teilen dieser Welt. Ihre wohl bemerkenswerteste Eigenschaft ist das Gefühl von Einsamkeit, das mit ihr verbunden ist. Über 11 Millionen Menschen leben in der Stadt. Doch jeder von ihnen ist isoliert, allein, eingeschlossen in seiner eigene Welt.“
Eliane Santana Silva (*1973) Haushaltshilfe Baiana, seit 1995 in SP
Wohnort in SP:
Jardim dos Álamos (Parelheiros), Geburtsort: Salvador da Bahia
„In São Paulo gibt es Arbeit, aber auch Freizeitmöglichkeiten. Mit meinen Kindern mache ich gern Ausflüge. Schlecht ist es, mit der Metrô oder dem Omnibus zu fahren. Da ist es sehr eng. Man fühlt sich wie in einer Sardinenbüchse. Auch die Gewalt ist schlimm. Und für die Kinder und Jugendlichen wird zu wenig getan. Die Regierung sollte mehr Geld für Schulen, Ausbildung, Kurse und für die Gesundheit ausgeben.“
Valeria Belitz França (*1972) Ökonomin Carioca, seit 2000 in SP
Stadtteil:
Morumbi, Geburtsort: Rio de Janeiro – (deutsche Mutter) – erste Generation,Auslandsreisen: USA, Frankreich, Spanien
„Wenn ein Paulistano oder eine Paulistana erfährt, dass ich “Carioca” bin (aus Rio de Janeiro stamme), werden mir unmittelbar folgende Fragen gestellt: „Warum um alles in der Welt hast Du Rio verlassen? Vermisst Du die Strände nicht?“ Nun, ehrlich gesagt vermisse ich sie nicht, doch manchmal habe ich Sehnsucht nach Lagoa und den umliegenden Bergen [Lagoa (Lagune) ist ein Viertel mit vielen Parks und Plätzen in der Südzone Rio de Janeiros].
Ich betrachte es als großes Privileg, den Ozean und den weichen Sand der Copacabana als „Garten“ meiner Kindheit bezeichnen zu können. Doch im Erwachsenenalter begann ich mich nach einer kosmopolitischeren Atmosphäre zu sehnen. Rio ist geprägt vom Tourismus, seinen Stränden und der Sonne, São Paulo hingegen ist die Businessmetropole Südamerikas. Als sich die Möglichkeit ergab, mich hier beruflich zu etablieren, habe ich die Chance genutzt. Ich wurde freundlich, mit offenen Armen empfangen und habe mich hier stets zuhause gefühlt. Danke, São Paulo!“
Marcelo Fraenkel (*1976) Diplom-Jurist, Übersetzer seit 2011 in SP
Stadtteil: 
Campo Limpo, Geburtsort: Coesfeld (NRW), Stationen: Coesfeld, Braunschweig, Berlin, München (25 Jahre), São Paulo (9 Jahre), USA und England, Zusatz: Die Eltern sind gebürtige Paulistanos.
„Im sogenannten Land der Gegensätze hat auch São Paulo seine Gegensätze: Der Unterschied zwischen der „Periferia“ – den die Stadt umschließenden Außenbezirken – und den wohlhabenden Stadtteilen um den (seinerseits heruntergekommenen) Stadtkern könnte größer nicht sein: leere Straßen und eingezäunte (-mauerte) (Hoch-)Häuser auf der einen Seite – Musik, Einfachheit, Offenheit, Freundlichkeit und eine bestimmte Natürlichkeit, mit der sich die weniger privilegierte Schicht ohne Klagen über Wasser hält, auf der anderen Seite. Man könnte vereinfacht auch sagen: In der Periferia São Paulos ist (insbesondere an den Wochenenden) das ganze Jahr über Karneval. Trotz Nachteilen wie größerer Armut und einem geringen Bildungsniveau ziehe ich persönlich die Periferia vor.“
Rafael Ferreira dos Santos (*1981) Taxifahrer Paulistano
Stadtteil: 
Jardim Marajoara, Geburtsort: São Paulo
„Positiv ist die Erreichbarkeit aller Orte. Es gibt eine große Auswahl an Freizeitangeboten und Restaurants. Auch das (meteorlogisches) Klima ist die Stadt ist ein großer Pluspunkt. Negativ sind der Verkehr und der Mangel an Sicherheit.“
Victoria Bruck Pereira Olivares (*1991) Studentin Paulistana
Stadtteil: 
Brooklin, Geburtsort: São Paulo
„Ich schätze die vielfältigen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, das große Angebot an Freizeitmöglichkeiten und die außerordentliche kulturelle Vielfalt der Stadt. São Paulo ist jedoch eine sehr gefährliche Stadt, was mich persönlich ungemein stört. Auch ist die Stadt sehr teuer und die öffentlichen Verkehrsmittel lassen sehr zu wünschen übrig.“
Lucilene F. Nascimento (*1992) Kassiererin Paulistana
Stadtteil: 
Grajaú, Geburtsort: São Paulo
„São Paulo bietet eine große Vielfalt an Möglichkeiten, in der Stadt hat man wirklich alles. Auf der anderen Seite empfinde ich São Paulo wenig gemütlich oder freundlich. Die Menschen sind ausgesprochen fixiert auf ihre Arbeit und sehr gestresst. Beklagenswert ist auch die Vernachlässigung der “Periferias”, der Außenbezirke.“
Carlos Augusto Bruck Pereira Olivares (*1995) Schüler      Paulistano
Stadtteil: 
Brooklin, Geburtsort: São Paulo
„In São Paulo kann man viele Dinge unternehmen wie in Parks oder ins Kino gehen. Auch abends gibt es zahlreiche Möglichkeiten auszugehen. Das gefällt mir an der Stadt. Mich stört, dass São Paulo sehr gefährlich ist, eine hohe Kriminalitätsrate hat und ist sehr teuer.“
Philipp Fayterna (*1997) Schüler seit 2012 in SP
Stadtteil:
Jardim Marajoara, Geburtsort: Heidelberg, Stationen: Heidelberg (1997-1999), Frankreich (1999-2000), São Paulo (2000-2004), Heidelberg (2005-2011)
„Für mich ist São Paulo eine dreckige und riesige Stadt, in der auch Gewalt eine so große Rolle spielt, dass man sich schon Sorgen um sich selbst machen muss.
São Paulo hat im Vergleich zu anderen Metropolen (Shanghai, selbst gesehen) viel Grün, d.h. viele Parks und kleine „Dschungel“. Aber zum Leben ist diese Stadt nicht so geeignet, denn durch die vielen Hochhäuser ist der Wohnraum deutlich kleiner.
Gut finde ich, dass die Stadt versucht, die Favelas nach und nach abzubauen und den Verkehr zu retten. Das ist aber sehr schwierig.“
João Pedro Henrich (*1997) Schüler seit 2012 in SP
Stadtteil: 
Vila Mascote, Geburtsort: Bonn, Zusatz: Die Mutter ist Brasilianerin, der Vater Deutscher.
„São Paulo ist eine sehr lebendige Stadt und das ist einer der Punkte, die mir nicht sehr gefallen, wie auch die Hochhäuser. Aber São Paulo hat auch Vorteile, wie zum Beispiel die Wärme der Menschen, die mit dir ausgehen und sich mit dir unterhalten, obwohl sie dich gar nicht kennen. Das Essen gefällt mir auch sehr gut und dass man hier viel Sushi isst. Das habe ich übrigens zum ersten Mal in São Paulo probiert!
In São Paulo habe ich schnell eine Menge Freunde gefunden, mit denen ich immer ausgehe und mich amüsiere.“
Max Fayterna (*1999) Schüler seit 2012 in SP
Stadtteil: 
Jardim Marajoara, Geburtsort: Senlise (Frankreich), Stationen: Frankreich (1999), São Paulo (2000-2004), Heidelberg (2005-2011)
„Ich finde es in Brasilien einfach nur genial, denn man kommt meist zügig an den Strand und man findet schnell Aktivitäten im Landesinneren. Trotz der Armut und der Gewalt finde ich die Menschen hier sehr freundlich.
Für mich ist es auch sehr interessant, mal durch sogenannte “Comunidades” (Favelas) zu fahren, denn dort war ich noch nie. Gehört habe ich, dass dort alles sehr eng, auf kleinstem Raum sein soll. Ich persönlich mache mir eigentlich wenig Gedanken, dass ich oder meine Familie überfallen werden. Trotzdem vermeiden meine Eltern natürlich die Wege an einer “Comunidade”.“

Freitag, 18. Januar 2013

Panoramafreiheit oder auch Straßenbildfreiheit

Mein Mann lebte keine zwei Monate in der Megacity, als ich ihn zum ersten Mal besuchte, und wir – aus rein touristischem Interesse – die ersten Fotos schossen, um unsere Eindrücke für die Ewigkeit festzuhalten.
Der Komplex rund um das Hilton São Paulo hatte es uns angetan, denn architektonisch ist das Ensemble mit Blick auf die Ponte Estaiada Octávio Frias de Oliveira, eine Schrägseilbrücke über den Rio Pinheiros – das Wahrzeichen der Megacity – sehr beeindruckend. Doch kaum hatte mein Mann seine damals noch klitzekleine Nikon-Digitalkamera in Schussposition gebracht, brauste ein Sicherheitsmann auf seinem Motorrad an und machte unmissverständlich klar, dass Fotografieren dort nicht erlaubt sei.
Viele Monate später flanierten wir auf der Avenida Brigadeiro Faria Lima und bewunderten die Auslagen von Tiffany & Co., als mein Mann plötzlich zur Kamera griff, um die wunderschönen Juwelen im Bild festzuhalten, als plötzlich der Sicherheitsmann wie eine Furie auf meinen Mann zuschoss und ihn aufforderte, unverzüglich die Kamera wieder einzupacken, was dieser mit Bedauern, aber ohne Widerspruch tat, denn eine Diskussion über rechtliche Sachverhalten in einer noch vergleichsweise fremden Sprache zu führen, machte nicht viel Sinn.
Das dritte Erlebnis dieser Art brachte bei meinem Mann das Fass schließlich zum Überlaufen: Wenige Tage zuvor hatte das JK Iguatemi, ein neues Luxus-Shopping, seine Tore geöffnet. Während mein Mann mit seiner inzwischen etwas größeren, aber dennoch sehr unauffälligen Kamera, die beste Foto-Position ausmachte, näherte sich ein Wachmann, mit bestimmtem Schritt, und erkundigte sich, ob wir eine “autorização” zur Erstellung von Bildmaterial besäßen. Nein, die hätten wir nicht, bedauerte ich, während mein Mann entrüstet erklärte, dass es ja wohl nicht sein könne, dass er hier nicht fotografieren dürfe, denn schließlich befände er sich auf öffentlichem Straßenland.
Als sich der Wachmann von der Argumentation meines Mannes unbeeindruckt zeigte, versuchte ich es mit dem „Touristen-Argument“. Wir seien aus Deutschland und fasziniert von der großartigen Architektur, die wir einfach festhalten wollten. In Deutschland sei es überhaupt kein Problem, von der Straße aus Fassaden abzulichten.
Während ich mich erklärte, hatte ich aus dem Augenwinkel wahrgenommen, dass sich zwei weitere Wachmänner in unsere Richtung bewegten, ganz offensichtlich, um dem Kollegen Hilfe zu leisten. Als dieser, ohne auf das Gesagte einzugehen, nochmals betonte, dass wir eine “autorização” benötigten, bedeutete ich meinem Mann, dass es wohl besser wäre, die Segel zu streichen.
Wie es denn sein könne, dass man in São Paulo auf öffentlichem Straßenland nicht fotografieren könne, erkundigte sich mein Mann am nächsten Tag aufgebracht bei Heloisa, unserer Sprachlehrerin. Im Arbeitszimmer konnte ich Bruchstücke der hitzigen Diskussion verfolgen, auf die sich Heloisa in meiner Unterrichtsstunde erneut bezog. Im Einzelnen sei sie über die Gesetzeslage nicht im Bilde. Doch sie könne sich vorstellen, dass das Fotografieren aus Sicherheitsgründen nicht gestattet sei, denn schließlich könnte die Fotosession dazu dienen, die Sicherheitsanlagen des Gebäudes im Bild festzuhalten. Wir entsprächen rein optisch sicher nicht dem klassischen Großkriminellen, warf ich ein, woraufhin sie zu bedenken gab, dass uns diese Tarnung vermutlich besonders verdächtig machen würde. Sicher sei der ein oder andere Kriminelle schon einmal auf die Idee gekommen, sich als Tourist ausgeben.
Wir fotografierten weiter – in unbedenklichen Gegenden – wobei wir auch in reinen Wohnstraßen immer wieder einmal kritische Blicke vom Sicherheitspersonal vor den Privathäusern oder den “guardas da rua”, den Straßenwächtern in ihren winzigen guaritas, den Wachhäuschen, von denen aus sie die Sicherheit der Straße im Visier haben, ernteten. Ob sich Letztere tatsächlich um die Sicherheit der Bewohner sorgten oder ob sie sich – angesichts unserer Motivauswahl vom interessanten Garagentor über den kunstvollen Briefkasten- eher die Frage stellten, ob wir im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte stehen, lässt sich nicht final beantworten.
Am vergangenen Wochenende nun schlug mein Mann vor, zur Fotosafari in die Avenida Leonardo da Vinci aufzubrechen. Auf dem Weg zu einem Kunden sei ihm dort ein beeindruckendes „Haus“ aufgefallen, das er gern fotografieren wolle.
Das „Haus“ hatte ich mir anders vorgestellt, denn ich hatte ein verlassenes Gebäude, keinen imposanten Glaspalast mit beeindruckenden Skulpturen davor vor Augen. Als alte Berlinerin kam mir sofort der bekannte Sinnspruch in den Kopf: „Nachtigall, ick hör dir trapsen!“, was auf hochdeutsch so viel heißt wie „Ich ahne schlimmes!“.
Ich sah den Wachmann schon, bevor er auf der Bühne erschienen war. Sekunden später hatte er sich vor meinem Mann materialisiert, dessen Gesichtsausdruck Bände sprach. Genau so schnell wie er gekommen war, hatte sich der Wachmann wieder entfernt und mein Mann war auf den Bürgersteig zurückgekehrt, wohin ich ihm folgte. „Ich fasse es nicht“, sagte er ungehalten. Ich habe dem Mann erklärt, dass Brasilien ein freies Land ist und ich einfach nicht verstehen kann, dass man hier nirgends fotografieren kann. Es ist immer dasselbe!“, sagte er und bewegte in Richtung des angrenzenden Parks.
Ich entschied mich, dass Gespräch mit dem Wachmann zu suchen. Was das denn für ein imposantes Gebäude sei und wo ich ein “autorização” erwirken könne, erkundigte ich mich. Das Gebäude sei der Hauptsitz der Itaú, berichtet der Wachmann geduldig. Hier sei die Bank gegründet worden, nach Plänen des Bankgründers. Die Architektur des Gesamtkomplexes sei um einen einzigen Baum herum entworfen worden. Die Skulpturen stammten von namhaften Künstlern, eine sogar von Oscar Niemeyer, erklärte er nicht ohne Stolz und näherte sich der Balustrade, von der aus man den Park im Blick hatte, um zu sehen, was mein Mann dort treibt.
Dafür, dass man eine so bedeutende Bank, immerhin die achtgrößte der Welt, nicht einfach so fotografieren könnte, hätte ich vollstes Verständnis. Ich würde mit der “assessoria de imprensa”, der Pressestelle, Kontakt aufnehmen, um eine Genehmigung zu erwirken und berichtete ihm über das Procedere in Deutschland. „Lassen Sie mich mit meinem Supervisor sprechen. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun“, sagte der sympathische Mann plötzlich und wandte sich per Walkie Talkie an Sr. Rogério, dem er die Lage schilderte. Sr. Rogério muss wohl einen großzügigen Tag gehabt haben, denn „unser“ wirklich freundlicher Wachmann teilte uns, nachdem ich meinen Mann aus der „Gefahrenzone“ geholt hatte, zufrieden mit, dass wir die Gebäude fotografieren könnten. Lediglich die Eingänge der Bank sollten wir bitte nicht aufnehmen.
Wir waren sprachlos und machten uns ans Werk, mit tollen Ergebnissen. Nach circa 15 Minuten verabschiedeten wir uns glücklich und dankbar bei dem Ausnahme-Wachmann, der so viel über seinen Arbeitsplatz zu berichten wusste.
Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hieß es, die Rechtslage zu sondieren. Gilt in Brasilien, wie in Deutschland, die Panoramafreiheit oder auch Straßenbildfreiheit, die es jedermann erlaubt, urheberrechtlich geschützte Werke (z. B. Gebäude oder auch eine bleibende Installation), die von öffentlichen Verkehrswegen aus zu sehen sind, bildlich wiederzugeben, ohne dafür die sonst erforderliche Genehmigung einholen zu müssen, oder eben nicht?
Ja, sie gilt. Die “Legislação sobre Direitos Autorais – LEI Nº 9.610, DE 19 DE FEVEREIRO DE 1998”, (Art. 48 und 79) garantiert diese auch in Brasilien.
“Eu não preciso de autorização para fotografar meu país” – „Ich benötige keine Genehmigung um mein Land zu fotografieren“, stellt ein Autor, der offensichtlich ähnliche Erfahrungen wie wir gemacht hat, mit Hinweis auf das Gesetz energisch fest.